Zwei Fliegen mit einer Klappe (zum Senatsantrag bezüglich kosmetischen Genitaloperationen im Universitätsklinikum Gießen und Marburg)

PRESSEMITTEILUNG des Autonomen FrauenLesben-Referats im AStA Marburg

Zwei Fliegen mit einer Klappe

In der Senatssitzung der Universität Marburg am 16.04.2012 wurde als Tagesordnungspunkt 9 der Antrag „Stellungnahme des Senats zu kosmetischen Genitaloperationen im Universitätsklinikum Marburg / Gießen an Kindern und Jugendlichen“ von den Linken Listen und dem Autonomen FrauenLesbenReferat in Kooperation mit der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org eingebracht.

Darin wurde der Senat und das Präsidium aufgefordert, eine öffentliche Stellungnahme zur Problematik von kosmetischen Genitaloperationen bei Kindern und Jugendlichen mit „atypischen“ körperlichen Geschlechtsmerkmalen abzugeben, eine Darstellung und Auseinandersetzung zum Ausmaß und Umfang dieser Praxis am Universitätsklinikum Marburg zu bewirken und sich für eine Untersagung dieser Praxis einzusetzen.

Schon zu Beginn der Sitzung wurde versucht dem Tagesordnungspunkt durch Streichung zu entgehen.

Neben den regulären Senatsmitgliedern waren Vertreter_innen der antragstellenden Gruppen sowie weitere Gäste anwesend. In den hinteren Reihen fanden sich Vertreter des Uniklinikums ein. Letztere waren vom Universitäts-Präsidium eingeladen worden, um den Umgang mit kosmetischen Genitaloperationen am Uni-Klinikum zu erläutern. Der (Chef?) Vertreter der Kinderchirurgie erklärte zunächst wie auch gegenüber der OP, dass nur medizinisch indizierte Operationen an Kindern und Jugendlichen durchgeführt würden. Um so erstaunlicher war dann seine Antwort auf eine detailliertere Nachfrage hinsichtlich des Vorgangs bei einer Operation der Harnwege (Hypospadie“korrektur“), in welcher er lapidar meinte, dass wenn während einer medizinisch notwendigen Operation die Möglichkeit einer kosmetischen Korrektur bestünde, man dann auch „zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt.“

Die Aufforderung des Präsidiums und verschiedener Senatsmitglieder „doch den Experten zu vertrauen“ erscheint durch die oben angeführte Äußerung in einem anderen Licht. „Natürlich werden in der medizinische Praxis diese Operationen nicht als kosmetische Genitaloperationen bezeichnet, sondern sie werden mit anderen Begriffen verschleiert“, kommentiert Petra Thesing, Senatorin der Linken Listen, die Ausführungen des Kinderchirurgen.

Angesichts solcher Äußerungen erscheint die Reaktion des Senats noch verwunderlicher zu sein. Viele Senatsmitglieder fanden das Thema zwar interessant und wollen sich weiter damit auseinandersetzen, dennoch wurde nur einer Darstellung und Analyse der gegenwärtigen und historischen Praxis in Marburg und der Umgang in der Lehre zugestimmt. Eine öffentliche Stellungnahme und eine klare Positionierung gegen nicht medizinisch notwendige Genitaloperationen bei Kindern und Jugendlichen wurde hingegen abgelehnt.

ANTRAG: Stellungnahme des Senats zu kosmetischen Genitaloperationen im Universitätsklinikum Marburg / Gießen an Kindern und Jugendlichen

Kosmetische Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen, die sogenannte „atypische“ körperliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, haben für viele der Betroffenen verheerend psychische und physische Folgen. Darunter fallen Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit, schmerzende Narben im Genitalbereich, gesundheitliche Schäden infolge der Kastration und Traumatisierung durch aufgezwungene Behandlungen.

Seit Jahren kritisieren u.a. die Deutschen Sektionen von Amnesty International und Terre des Femmes diese Eingriffe als menschenrechtswidrig und unterstreichen die Parallelen zur weiblichen Genitalverstümmelung.1 Ebenso rügten die UN-Komitees CEDAW und CAT Deutschland wegen Nichteinhaltung ihrer Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Kindern und Jugendlichen.2

Wir sehen diese medizinischen Eingriffe als eine starke Beschneidung des Rechts von Kindern und Jugendlichen auf körperliche Integrität und Lebensqualität, insbesondere im Bereich des sexuellen Empfindungsfähigkeit, und die freie Entwicklung der Persönlichkeit, sowie des Rechts von Kindern und Jugendlichen auf Partizipation bzw. Selbstbestimmung. In verschiedenen Ländern, wie der Schweiz und Deutschland, wurde aktuell die ethische Überprüfung von kosmetischen Genitaloperationen veranlaßt. In der BRD veröffentlichte der Deutsche Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung am 23. Februar dieses Jahres eine Stellungnahme „Intersexualität“3, die das physische und psychische Leiden der Betroffenen von kosmetischen Genitaloperationen und –behandlungen anerkannte und einen anderen Umgang mit nicht-eindeutigen körperlichen geschlechtlichen Merkmalen forderte4. Zudem forderte der Deutsche Ethikrat dazu auf, den Betroffenen Entschädigungsleistungen zukommen zu lassen5 und im gleichen Zuge die Verjährung analog den bereits bestehenden Gesetzen betreffend sexualisierte Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen auszusetzen.6

Um den Umfang und das Ausmaß an kosmetischen Genitaloperationen nachvollziehen zu können, bedarf es ebenfalls einer historischen Betrachtung. Prof. Dr. Hans Naujoks, der ab 1926 als Oberarzt und Professor auch in Marburg und später als Leiter der Frauenklinik in Köln tätig war, beispielsweise führte bereits Genitaloperationen und künstliche Hormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen durch und publizierte einige Studien zu dem Thema. In einer Dissertation von 1996 wurde in diesem Zusammenhang eine Publikation von Hans Naujoks aus dem Jahr 1934 hervorgehoben, die eine „[Klitoris-]Amputation mit Stumpfbildung“7 in Verbindung mit einer experimentelle Fertilitätsbehandlung mit künstlichen Hormonen schilderte. Erst vor Kurzem wurden seine Methoden und Ansätze u.a. vom Deutschen Ethikrat als „rassistisch motivierte medizinische Operationen an intersexuellen Menschen“ (Dt. Ethikrat, 19.7.11) kritisiert.8 Der Umgang mit derartigen medizinischen Praxen zeigt eine Kontinuität in der Behandlung von intersexuellen Menschen mit nicht-eindeutigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen auf, die zurück bis in die NSZeit in Deutschland reichen.

Auch an den Universitätskliniken in Gießen und Marburg werden weiterhin in Bereichen der Endokrinologie, Kinderchirurgie und Kinderurologie kosmetische Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen durchgeführt, u.a. Hypospadiekorrekturen, Klitoris- und Vaginalplastiken und chirurgische Hodenverlagerungen. Auch am Klinikum Fulda, dem Akademischen Lehrkrankenhaus der Philipps-Universität Marburg, werden in der Fachabteilung der Kinderurologie regelmäßig Hypospadiekorrekturen und chirurgische Hodenverlagerungen durchgeführt.9 experimentelle Fertilitätsbehandlung mit künstlichen Hormonen schilderte. Erst vor Kurzem wurden seine Methoden und Ansätze u.a. vom Deutschen Ethikrat als „rassistisch motivierte medizinische Operationen an intersexuellen Menschen“ (Dt. Ethikrat, 19.7.11) kritisiert.8 Der Umgang mit derartigen medizinischen Praxen zeigt eine Kontinuität in der Behandlung von intersexuellen Menschen mit nicht-eindeutigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen auf, die zurück bis in die NSZeit in Deutschland reichen. Auch an den Universitätskliniken in Gießen und Marburg werden weiterhin in Bereichen der Endokrinologie, Kinderchirurgie und Kinderurologie kosmetische Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen durchgeführt, u.a. Hypospadiekorrekturen, Klitoris- und Vaginalplastiken und chirurgische Hodenverlagerungen. Auch am Klinikum Fulda, dem Akademischen Lehrkrankenhaus der Philipps-Universität Marburg, werden in der Fachabteilung der Kinderurologie regelmäßig Hypospadiekorrekturen und chirurgische Hodenverlagerungen durchgeführt.9

Wir fordern den Senat und das Präsidium der Philipps-Universität Marburg auf:

– eine öffentliche Stellungnahme gegen nicht medizinisch notwendige Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen und nicht medizinisch notwendigen Hormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen abzugeben.

– eine öffentlich zugängliche Darstellung des Umfangs, dem (historischen) Ausmaß und der Dauer von kosmetischen Genitaloperationen zu bewirken. Dies beinhaltet zudem eine Analyse über den Umgang mit kosmetischen Genitaloperationen in der Lehre.

– Des weiteren fordern wir den Senat der Philipps-Universität Marburg auf sowohl in der medizinischen Ausbildung als auch am Universitäts-Klinikum der Universitätsstadt Marburg und deren Zweigstellen darauf hinzuwirken, dass diese Operationen und Behandlungen als Bestandteil der medizinischen Praxis untersagt werden.

1 – Amnesty International, Sektion Deutschland: Vgl. Beschluss der Jahresversammlung 2010. http://www.mersihamburg.

de/Main/20100526001

– Konstanze Plett: „Die Macht der Tabus“, amnesty journal 03/08, S. 23.

– Terre des Femmes Deutschland: Vgl. Marion Hulverscheidt: „Weiblich gemacht? Genitalverstümmelung bei afrikanischen Frauen und bei Intersexuellen“, in: TDF- Menschenrechte für die Frau 3/4/2004, S. 23-26.

Auch internationale FGM-Expertinnen unterstreichen seit Jahren die Parallelen zur weiblichen Genitalverstümmelung, vgl.:

– Hanny Lightfoot-Klein: „Der Beschneidungsskandal“. Berlin: Orlanda, 2003

– Hana Asefaw/Daniela Hrzán: „Genital Cutting – Eine Einführung“, in: ZtG Bulletin 28, Berlin 2005.

2 Abschliessende Bemerkungen des UN-Komitees zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland(CEDAW/C/DEU/CO/6), Punkte 4, 61, 62 und 67. http://www2.ohchr.org/english/bodies/cedaw/docs/co/CEDAW-C-DEU-CO6.pdf

3 http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf .

4 Empfehlung 6 und 7 zur medizinischen Behandlung, Stellungnahme „Intersexualität“ S. 174.

5 Vgl. Abschnitt 8.3.8.1. „Entschädigungsfonds“, Stellungnahme „Intersexualität“ (S. 164-166).

6 Empfehlung 14 zur medizinischen Behandlung, Stellungnahme „Intersexualität“ S. 176.

7 Dominik Leitsch: „Die Intersexualität. Diagnostik und Therapie aus kinderchirurgischer Sicht.“ Dissertation, Köln 1996, S. 47. Die von Leitsch angesprochene Publikation: Hans Naujoks: „Über echte Zwitterbildung beim Menschen und ihre Beeinflussung“, in: Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie Nr. 109/2, S. 135-161.

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